Sammlung Grässlin

Im Land der Motive brennt kein Licht mehr

Neue Ausstellung Im Land der Motive brennt kein Licht mehr ab 13. Juli 2025.


Im Land der Motive brennt kein Licht mehr

In einer Welt, die vollends aus den Fugen geraten ist, widmet sich die Sammlung Grässlin mit der Ausstellung Im Land der Motive brennt kein Licht mehr »den schweren Themen« (Albert Oehlen) unserer Zeit. Die Ausstellung geht zurück an den Ursprung unserer aktuell nur schwerlich aushaltbaren Gegenwart.

Schon in den späten 1970ern und frühen 1980ern schien jede bequeme Gewissheit dahin zu sein. Von hehrem Weltgeist oder gar Weltweisheit war nichts zu spüren. Ob gegen verschwiegene Verstrickungen in den Nationalsozialismus, gegen unter dem Deckmantel von Freiheit und Demokratie geführte Wirtschaftskriege oder etwa für einen bewussteren Umgang mit der Umwelt und sexuelle Selbstbestimmung, eine ganze Generation von Künstlerinnen und Künstlern lehnte sich angesichts der Kaputtheit der Welt gegen eine ebenso erstarrte wie verlogene Gesellschaft auf.


Wie zusammen leben?

Um 1980 fiel die bisherige Welt auseinander, doch eine neue war noch nicht da. Also wurden die Finger künstlerisch auf alle gesellschaftlichen Wunden und blinden Flecken gelegt, ohne dass feststand, was richtig oder falsch, gut oder böse sei. Die Kritik folgte umgehend: Solche Kunst sei zynisch und menschenverachtend. Aus heutiger Sicht sollte man sich allerdings fragen, ob die damalige Drastik, Geschmacklosigkeit, Ironie und Zynismus nicht vielmehr Ausdruck einer zutiefst verzweifelten Menschlichkeit waren. 

Auch 2025 fällt die bisherige Welt auseinander, ohne dass wir wüssten, wie eine neue aussehen könnte. Und wieder wird – mit wortreich-symbolischen Bekundungen – geschwiegen. Diesmal jedoch nicht aus Scham über die eigenen Verfehlungen, sondern aus Angst, etwas vermeintlich Falsches zu sagen und Verantwortung für das eigene Tun übernehmen zu müssen. Nur zeigt sich, dass politisch korrekte Reglementierungen den sozialen Zusammenhalt keineswegs stärken, sondern durch unausgesprochene Sprach- und Denkverbote spalten (»cancel culture«, »echo chambers« usf.).

Wie wollen wir heute zusammenleben, wenn Zusammenleben nicht nur Teilhabe braucht, sondern immer auch Reibung? Das Allgemeine einer Gesellschaft liegt vielleicht gerade in der bewusst ausgehaltenen und vor allem permanent auszuhandelnden Vielfalt ihrer Stimmen und Perspektiven – einschließlich der unbequemen. Spricht eine Gesellschaft nur noch mit einer einzigen Stimme, sollte man sich Sorgen machen.


Was ist denn bloß am Sonntag los?

Auf den 10 Tafeln von Was ist denn bloß am Sonntag los? entwirft Martin Kippenberger ein regelrechtes Alltagsmosaik. Mit Motiven aus Comics, Groschenheften, Magazinen und Boulevardzeitungen breitet er die privaten Befindlichkeiten im Westdeutschland der 1980er aus. Das Meiste absurd, aberwitzig und banal. Dinge, über die man gemeinhin nicht spricht, die aber menschlich sind und berührend. Kleine Hoffnungen und Tragödien, die oft umso prägender sind. Also was ist jetzt am Sonntag los, während die große Weltgeschichte stillsteht? Sich fein machen, splitterfasernackt zuhause sitzen, psychedelischen Tapeten beim Verlaufen zusehen, den schnittigen Opel Kadett polieren, Beziehungen beenden, im Garten fürs Familienalbum posieren, sich mit Erektionsstörungen herumschlagen und am Ende wie ein skelettiertes Faultier durchhängen.


Die Verbreitung der Mittelmäßigkeit

Die Welt im grellen Lichtkegel. Eurasien, Afrika und Australien farbig gefleckt wie in einem Verteilungsdiagramm. Von Amerika ist weit und breit nichts zu sehen. Allerdings liefert Kippenbergers Die Verbreitung der Mittelmäßigkeit weder einen Schlüssel noch eine Erklärung. Nur die nüchterne Feststellung des Titels. Wie dieser gemeint ist, abschätzig oder wertfrei, wer kann das sagen. Darf man überhaupt noch vergleichen? Wenn nicht, trifft das Bild umso mehr. Dann sind wir nämlich selbst am ›mittelmäßigsten‹.


Morgenlicht fällt ins Führerhauptquartier

Das Führerhauptquartier liegt in Trümmern. Welches, lässt Albert Oehlen offen. Könnte überall sein. Durch hohe Fenster fällt zartweißes Licht auf blutrot verschmierten Boden. Der Raum ist leer. Bruchlinien zerfurchen die Bildfläche wie gesplittertes Glas. Das Bild ist in so extremer Aufsicht gegeben, dass es unten in einen düsteren Abgrund wegbricht. Aber immerhin vertreibt das Morgenlicht den Horror des nationalsozialistischen Alptraums, oder etwa nicht?

Derartige Erlösung bietet Oehlen keineswegs. In der rechten Ecke unten befindet sich kein zerbrochenes Fenster, sondern ein Hakenkreuz, das in einen aufgeklebten Spiegel ragt. Es kommt bedrohlich nah an uns und unsere ins Bild gespiegelte Gegenwart heran, in der die Geschichte offensichtlich noch nicht abgeschlossen ist. Ebenso wenig kommt man ›Ingenieursleistungen‹ wie der Adolf-Hitler-Brücke, Krefeld

 durch Primärfarben und Konstruktivismus bei. Eine gute und eine böse Moderne gibt es nicht. Die Einzige, die wir haben, tut weh.


Civiltà Italiana

Monumental aufgezogen, hinter Glas und mit massiver Holzrahmung zeigt Günther Förg den Palazzo della Civiltà Italiana, auf dem Gelände der für 1942 geplanten Weltausstellung in Rom erbaut. Die Kompromisslosigkeit des rationalistischen Entwurfs ist atemberaubend, klassisch, formschön. Entlang der wohlproportionierten Rundbogenarkaden kann man lange schwelgen, bis auffällt, dass sie in 6 vertikale Spalten und 9 horizontale Zeilen angeordnet sind. Zusammen buchstabiert das: B-e-n-i-t-o M-u-s-s-o-l-i-n-i. Eine steingewordene Anrufung des Duces. 

Dagegen ist Förgs Blick auf die Architektur verzogen, überdehnt und schräg. Er bringt den Palazzo ins Wanken. Abbildhafte Objektivität kümmert ihn nicht. Förg zeigt nicht den Bau, er macht den betrachtenden Blick spürbar. Gegenüber der totalitären Architektur behauptet er den unsicheren menschlichen Stand. Sich der Geschichte und ihren Überresten sehenden Auges zu stellen, sie nicht zu verdrängen, ist befreiend.


40 Jahre

Reinhard Muchas Bau ist eine kafkaeske Großinstallation aus Möbelstücken, Bau- und Dämmmaterialien und einem ausrangierten Stationsschild des Remscheider Bahnhofs inklusive Neonröhren. Das Gemachtsein des Ganzen ist offensiv ausgestellt. Nur was sieht man, wenn man in eine leere Vitrine blickt? Nichts. Wohin führt das monströse Modell des Eisenbahntunnels? Nirgendwohin. Stehen wir 40 Jahre nach Kriegsende vor denselben oder neuen Ruinen? Oder in einer verlassenen Wartehalle? Ist der Zug, einst treibende Kraft von der industriellen Revolution bis zum Blitzkrieg, längst abgefahren? Und Remscheid Sinnbild einer selbstgerechten westdeutschen Bräsigkeit?

Auf Georg Herolds tiefschwarzem, tieftraurigem Foto finden sich einzelne Worte. Zusammengelesen ergeben sie den Anfang der Nationalhymne der DDR: »Auferstanden«, »aus«, »aus« … Beim zweiten »aus« stockt man, als wäre jäh Schluss, alles zu Ende, »aus«. Nichts mit »der Zukunft zugewandt«. Und wenn, ist sie eine »Ruine(n)«. Dann säuselt es nicht »im Schafsmaul«, sondern »glotzt« auf einen güldenen Jubiläumsschriftzug: 40 Jahre Magermilch. Nicht »40 Jahre Sieg über Krieg und Faschismus« im »besseren Deutschland«, das sich auf die Weimarer Klassiker berief und die eigene Jugend, wenn sie zu idealistisch dachte, ins Zuchthaus steckte. Den kognitiven Riss zwischen Vorstellung und Wirklichkeit vermochte keine noch so große Menge an verordneter Magermilch zu verwischen.


Krieg böse

»In Europe and America there’s a growing feeling of hysteria / Conditioned to respond to all the threats«, singt Gordon Sumner im November 1985. Heute tönt es aus Berlin, Deutschland müsse spätestens 2029 wieder »kriegsfähig sein«. Was sind das für Zeiten, in denen ein Gespräch über friedenvolle, diplomatische Verständigung zwischen den Völkern fast als Verbrechen geahndet wird? Sting sang damals noch weiter: »There’s no such thing as a winnable war / It’s a lie we don’t believe anymore / ›We will protect you‹ / I don’t subscribe to this point of view.« Und er endete mit einem verzweifelten Appell: »Believe me when I say to you / I hope the Russians love their children too.«

Werner Büttners Badende Russen zielt 1982 in dieselbe Richtung. Ob die Rotarmisten nun Befreier oder Unholde waren, kindliche Freude an der sommerlichen Erfrischung hatten sie bestimmt und ihre Kinder genauso lieb. »We share the same biology, regardless of ideology.« In den frühen 1990ern konnte Kippenberger mit seinen Krieg böse-Bildern der nichtbetroffenen Antikriegsbetroffenheit im Westen noch höhnisch ans Bein beziehungsweise den Panzer pinkeln. 20 Jahre danach kommt dem Küken auf Cosima von Bonins Hochglanzrakete, die es reitet wie Dr. Seltsam die geliebte Bombe, nur noch das Kotzen.


Blood and soil

Auf der Suche nach alternativen Lebensmodellen, Gesundheit und Glückseligkeit stößt Mike Kelley ebenfalls Anfang der 1990er auf Wilhelm Reichs verstiegene Lehre von der universalen Energie des Orgons, die zu therapeutischen Zwecken in einem eigens entworfenen Akkumulator angereichert werden sollte, um bei den Probanden neurotische Blockaden zu lösen und die »vollständige Entladung aller aufgestauten Sexualerregung« hervorzurufen. Penibel baut Kelley einen DIY-Gartenschuppen zu seinem eigenen Orgonakkumulator um – wie vorgeschrieben mit Stahlblech und Glaswolle ausgekleidet, den besten »Orgonabsorbern«, und, offensichtlich nach einer Vielzahl geglückter Experimente, mit Bergen von zerknüllten Papiertüchern. Masturbation als äußerste Form der Selbstbestimmung. Eine etwas andere sexuelle Revolution gegenüber jedem gesellschaftlichen Zwang. Die groteske Colema Bank zur Darmentleerung und die 10 Banner, als subkulturelle Provokationen von ›Blut und Boden‹ bis Motörhead für eine Modenschau entworfen, sind ebenso Ausdruck von Kelleys Sehnsucht nach absoluter Entäußerung.


Reflux Lux

Kai Althoff geht 1998 den genau entgegengesetzten Weg: Absolute Verinnerlichung. In einem kargen, komplett gelben Raum stehen zwei unbenutzte Barhocker, ein laufender Fernseher, ein improvisierter Tisch mit gebrauchtem Geschirr und eine Pickelhaube. Zwei Puppen, eine Frau und ein Mann, liegen oder lehnen teilnahmslos auf dem Boden. Signalisiert Gelb gemeinhin Schöpferkraft, Freude und Energie, in diesem Jugendzimmer ist davon nichts vorhanden. Auf einem Papier an der Wand steht ein ausgeblichenes »Nein«. Verweigerung. Ende der Geschichte. Angesichts der TV-Dauerbestrahlung und Preußens wiedergängerischer Glorie scheint Reflux Lux eine Art von visuellem Sodbrennen zu sein. Als stünde einem der ganze Überdruss und das Unbehagen an der eigenen Gegenwart bis zu den Augen. Dann lieber inmitten der Gesellschaft aussteigen, sich berauschen oder einer Depression hingeben, der Welt entsagen, blind werden.


Imperiale Backpfeifen

Konfrontierte Kippenbergers Südländer sind feuriger den Westen mit den eigenen rassistischen Vorurteilen über die ›exotische‹ Lebensart, hat Manuel Ocampos Tortas Imperiales (Imperial Slap) für die selbstherrliche Anmaßung des globalen Empires nur Spott übrig und eine Backpfeife. Ein weißer Mann mittleren Alters liegt malad und leidend in einem ansehnlich bezogenen Bett. Neben ihm sitzt sein Doktor, ein dressierter Esel mit Anzug, feinem Schuh und Armbanduhr, und misst den Puls. Wie bestellt und nicht abgeholt steht im Bildvordergrund die krasse Karikatur eines afrikanischen Stammeskriegers, reich geschmückt mit Zahnketten, Schild und Speer sowie einem blauen Reisekoffer. Unverblümt enteignet Ocampo den westlichen Kunstkanon, hier das 40. Blatt aus Goyas Caprichos. Und während der Kulturesel noch darüber grübelt, »De que mal morira? / An welchem Übel wird er wohl sterben?«, scheint sich der Afrikaner nur zu fragen, wie er überhaupt in diese Misere hineingeraten ist.

Mit bitterer Ironie stellt sich Chéri Samba der Ambivalenz zwischen den relativen Privilegien eines im Westen anerkannten Künstlers und der kongolesischen Lebensrealität. Zwar ist die sogenannte Zivilisation inzwischen auch in Afrika angekommen, nur Toiletten gibt es immer noch keine: Parcelle sans WC. Als ›kultivierte‹ Person kleidet man sich fortan also westlich, schläft in einem Bett und verrichtet seine Notdurft in eine Schüssel. Eine ungleich subtilere Art zu kolonisieren, die nicht mehr brutal unterdrückt, sondern fortschrittlich zu Scham und Selbstverleugnung ermutigt. Mit hintersinnigem Witz versetzt Samba in Lutte contre les moustiques traditionelle Posen und Techniken der Jagd in ein Schlafzimmer, das von unzähligen Mücken heimgesucht wird. Doch mitten im nächtlichen Kampf fragt das lästige Ungeziefer mit einer vielstimmigen Anklage zurück: »N’avons-nous pas droit a la vie nous aussi??? / Haben wir nicht auch ein Recht auf Leben???« Hier wie da, es leiden immer die Schwächsten.


Arbeiten, bis alles geklärt ist

Die Ausstellung Im Land der Motive brennt kein Licht mehr ist eine Einladung, sich den Herausforderungen unserer schmerzenden Gegenwart durch die Kunst zu stellen: Alltag und Ausnahmezustand, Politik und Populismus, Kolonialismus und Rassismus, Sexualität und Identität, Wirtschaftsexzess und Verelendung, Krieg, Hunger, Flucht und Vertreibung, Konsum, Ausbeutung und Auslöschung, Religion, Umwelt und Klima, Anpassung und Auflehnung, Konformismus und individueller Widerstand, Sommerfrische, Tränen, Magermilch …

Denn augenblicklich scheint es noch nicht ganz ausgemacht, dass ›keiner keinem hilft‹ und es wirklich zappenduster wird in der Welt. Also es gibt noch was zu tun: Arbeiten, bis alles geklärt ist!

Christian Malycha

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