Sammlung Grässlin

Mike Kelley Martin Kippenberger Albert Oehlen & Werke aus der Sammlung


DEUTSCH-AMERIKANISCHE MYTHOLOGIE

Claude Lévi-Strauss hat in seinem Buch „Das Rohe und das Gekochte“ nachdrücklich betont, dass man von jedem Subjekt abstrahieren müsse, um zu erkennen, dass sich die Mythen auf gewisse Weise „untereinander“ denken, und annotiert über die Objiwa-Indianer, dass sie die Mythen für Wesen halten, die Bewusstsein haben, denken und handeln können.

Blickt man auf eine Gruppe von Künstlern der 1980er Jahre zurück und versucht sie stilistisch einzuordnen, damit man über ihrer individuellen künstlerischen Arbeit einen Grundtenor oder etwas Verbindendes festmachen könne, dass über den Zeitgeist hinausgeht, dann bietet es sich an, mit Begriffen wie Erzählungen oder Mythen zu operieren. Wir denken an Künstlerinnen und Künstler wie Mike Kelley, Martin Kippenberger, Paul McCarthy, Albert Oehlen, Franz West, Cady Noland, Richard Prince, Cindy Sherman, Jeff Koons, Georg Herold, Rosemarie Trockel, Thomas Schütte und Reinhard Mucha. Die Namen lassen sich erweitern und austauschen, aber nicht beliebig durch andere ersetzen. Vor allem fällt auf, dass es sich fast ausschließlich um amerikanische und deutsche Künstler handelt. Diese Gruppierung, deren Namen am ehesten noch durch Galerien und Sammlungen in Verbindung gebracht wurden, musste zur Kenntnis nehmen, dass die Tage der intellektuell ausgerichteten Konzeptkunst gezählt waren und dass man unter dem neuen Regime von „Malerei“ und „Skulptur“, zunächst archaisch wild, dann geometrisch geordnet, nach einem Tertium Comparationis suchen müsse, einer Überlieferung von traditionellen kulturellen Elementen, die man erst einmal brechen musste, um sie dann neu legitimieren und darstellen zu können. Da kamen die humorvollen und ironischen Elemente des Comics und die allusorischen Elemente, das heißt eine anzügliche Anspielung, gerade recht, vor allem, wenn man sie in einen Kunststil übersetzen konnte wie „gestisch“, „informel“, „konkret“ oder einfach als Readymade einsetzte.


Die Sammlung Grässlin bot sich mit ihrer Beschränkung auf junge deutsche Kunst und dem Sitz ihrer Sammlung im Schwarzwaldstädtchen St. Georgen geradezu an, Mythenbildung voranzutreiben. Man erinnere sich nur des Katalogs von Martin Kippenberger anlässlich seines 40. Geburtstages, der ausgiebig in St. Georgen gefeiert wurde, als der Künstler beschloss, das vielseitige Volumen in Tannengrün zu drucken mit einem romantischen Bildmotiv von Hans Thoma, einer Präfiguration Kippenbergers sozusagen, auf dem Cover. Im Kunstraum sind drei zentrale Künstler der 1980er und 1990er Jahre mit wichtigen Arbeiten versammelt: Mike Kelley, Martin Kippenberger und Albert Oehlen. Kippenberger, der sich über einen längeren Zeitraum in St. Georgen aufhielt, ist zusätzlich noch mit Werken im Ausstellungsraum des Hauses am Klosterberg präsent. 


Im Rundgang lassen sich die unterschiedlichen Arbeiten aus verschiedenen Perioden als Mythenbildung verstehen. Kippenbergers gewaltiger Transportabler Lüftungsschacht steht im Stadtgarten und reckt sein Saugrohr wie einen Rüssel dem Betrachter entgegen. Die für Skulptur.Projekte in Münster 1997 geschaffene Stahlskulptur lag dort am Wall in auffälliger Nähe zur Büste der Annette von Droste-Hülshoff. Auch wenn diese Plastik sich mit einem hämischen Unterton bei „Kunst am Bau“ aus den Sechzigern einhakt, ist sie alles andere als das. Dafür sorgt schon das in Intervallen auftretende Geräusch einfahrender U-Bahn-Züge. Im Rahmen des weltumspannenden Metronetzes, der letzten umfassenden Werkgruppe Kippenbergers, gehört sie zu den normalerweise nur im Ansatz sichtbaren Elementen einer Ventilation mit Ansaugstutzen, der dann über einen Kasten und Röhren die Frischluft in die Schächte pumpt. Das große Teil ist gleichsam aus der Unsichtbarkeit an die Oberfläche geholt worden, wo es an ein anderes Zeichensystem, das der Kunst, angeschlossen wird. Es gibt eine Zeichnung des Künstlers aus dem Jahre 1988, in der er sich, nur mit Unterhose bekleidet, in einem Raum an einem Kanonenöfchen wärmt, das in Wahrheit ein Sideboard mit Ofenrohr ist. Gleichzeitig könnte man darin das Ausguckrohr eines U-Bootes sehen. Vielleicht war dies das Grundschema für den Lüftungsschacht: das Sichtbarwerden und Freilegen der Unterwelt im „transportablen“ Zustand oder das Unbewusste, dass vor dem Bewusstsein unter Repräsentationsdruck gerät.

Auch die zehn Zuerst nicht gekauften Bilder Kippenbergers, die im Restaurant Kippys hängen, beziehen sich auf Unsichtbares. Sie sind nämlich die Repräsentanten verschiedener Werkgruppen, die somit doch noch Eintritt in die Sammlung Grässlin erhalten haben. Es sind konzeptuelle Bilder, die sich trotz ihrer stilistischen Unterschiedlichkeit kritisch mit Deutschland und deutscher Kunst beschäftigen, sozusagen Kalenderblätter verschiedener Themen, die ihre analoge sinnreiche Gestaltung erfahren.


Im KUNSTRAUM GRÄSSLIN sieht man zunächst einen Querschnitt aus dem malerischen Werk von Albert Oehlen, in dem der Mythenbildung besonders Rechnung getragen wird. Dies beginnt mit einem der frühen Spiegelbilder, dem Ofen von 1982, wo ein Kanonenofen wie ein Wesen aus vorgeschichtlicher Zeit vor gemauerter Wand und eingesetztem Spiegel mittels weißer Linien in Verbindung mit dem sich spiegelnden Betrachter gesetzt wird. Auch die beiden anderen Bilder dieser Zeit, Adolf-Hitler-Brücke, Krefeld (1985) und Zimmer mit ‚Ö‘ (1986) erinnern sich an die „gute“ alte Zeit. Die Primärfarben, die Oehlen auch bei seinem Hitler-Porträt dieser Zeit einsetzt, Farbsignal der Avantgarde in Rot, Gelb und Blau, lassen die Fußgängerbrücke gespenstisch aufleuchten, um nicht vergessen zu lassen, dass die Avantgarde ursprünglich ein militärischer Begriff war und der Faschismus mit progressiven Vorzeichen startete. Noch intensiver lastet der dunkle Schatten kollektiver Erinnerung im Zimmer mit ‚Ö‘. Ein grüner Vorhang, eine Büste auf Sockel, Hitler-ähnlich, vielleicht der Maler selbst, und im Vordergrund ein Eisenbett mit darüber gebreitetem roten Ö als eine Art Bettvorleger. Ö wie Oehlen? Oder die Vereinfachung des beuysschen Hirschrufs öö als Urlaut? Ein Bild an der Wand mit einem Doppellabyrinth verrätselt das Interieur vollends.

Albert Oehlen erweiterte seine spröden Mythologeme aus den 1980er Jahren – nicht zuletzt durch die permanente Beschäftigung mit der Collage – zu fast abstrakten postinformellen Übermalungskosmologien, in denen sich die Ausgeburten der Hölle, einer Hölle auf Erden, hinterrücks eingeschlichen haben. In den grauen Bildern der späten 1990er Jahre feiern diese Monster in einer neuen malerischen Verschleifung fröhliche Urständ. „Verschiedene Seelen stellen das Bild dar“, schreibt der Künstler, „Seelen zum Vergessen, Seelen zum Aufräumen, Seelen zum Essen. Die Seelen sind aber nicht zu Ende gemalt, erscheinen dadurch grau, hohl und lauwarm, und man möchte sie wegschicken und hinterher peitschen.“ (Inhaltsangabe, Berlin 2000). Der Bär mit Auszeichnung (1997) ist ein wüster Geselle, der wie der Satan bei Goya mit Zepter auf einem Thron sitzt. Ein mongolischer Dämon davor verweist die Szene nach Russland. Und auch in den beiden anderen Großformaten aus den letzten Jahren (Salon, 2004, und Die Veränderungen, 2005) ist der Spuk noch da, südländisch, abgeklärt, als Collage oder Bild im Bild. Wenn Hände zu Füßen mutieren und Ohren aus den Bilderrahmen wachsen, dann ist die Malerei zum Glück keine Widerspiegelung der Realität, sondern der Potenz. 


Martin Kippenberger bietet Paroli. Die beiden Bilderserien aus der ersten Hälfte der 1980er-Jahre müssen ihren Ikonenvorrat aber erst noch suchen. Bei den fünf Bildern der Serie Fliegender Tanga (1983) fliegt kein Slip in die Ecke. Aber ufomäßig geht es schon zu, wenn ein Chinesenjunge vor der chinesischen Mauer Coca-Cola trinkt (im Chinesischen: ke-kou-ke-le), wenn der Bürgerrechtler Malcolm X als Mönch den Rasenmäher bedient, wenn gefesselte Damenhände nach dem großen Los greifen, wenn ein Rückentorso sich in zwei Wesen spalten möchte und wenn der Künstler depressiv in Legastheniker-Deutsch bemerkt, nichts gehe mehr. Dann glaubt man eher, dass Martin Kippenberger mit dem Fliegender Tanga den Asteroiden meint, der erstmals 1930 gesichtet und nach der Stadt Tanga in Tansania benannt wurde. Das Triptychon Berlin bei Nacht (1981) ist der Anfang aller dieser Mythen im Kunstraum. Berlin bei Nacht ist grau und öde. Das Porträt des Künstlers im Gazeverband als Zentrum wird von den schönen bzw. deprimierenden Erinnerungen eines Schlittschuhläufers zur Linken und einer Ratte zur Rechten und einem zerspringenden Glas flankiert. Große Wohnung, nie zuhause, das ist der flotte Lebemann, der einer Punklady namens „Hildegard“ mit Ratte auf der Schulter zum Opfer fällt – im wörtlichen Sinne. Die vorsichtig gemalte autobiografische Story ist wie ein Auslöser für alle monströsen Arbeiten in diesem Raum, die zeigen, wie eng Leben, Erinnerung und soziale Verantwortung mit Fantasien und Visionen zu tun haben.


Mike Kelley nimmt sich nicht aus davon. Doch formt er im Unterschied zu den skurrilen und grotesken Visionen von Albert Oehlen und Martin Kippenberger Alpträume. Zwei seiner wichtigen Skulpturen von 1992 sind in der Raummitte versammelt, Orgone Shed und Colema Bench. Kelleys Mythen sind naturgemäß amerikanisch und bewegen sich in einem eng abgesteckten Feld von Wissenschaftlichkeit, Folk, Comic, Objet trouvée und Flohmarkt. Während seine Zeichnungen die grausame Fantasie von „Helter Skelter“ verströmen, sind die Objekte oft überraschend nüchtern. Unter „Do-it-yourself“ assoziiert man entsprechende Gebrauchsanweisungen an den Wänden und viel Holz, das der Farmer in seinem Hobbykeller in Mußestunden verarbeitet. Ursprünglich gehörten die beiden Skulpturen zu einer Gruppe von vier Holzwerken, zu sehen bei der documenta 8, die noch das Kneading Board und den Torture Tale umschlossen. Die Orgone Shed aus Eisenblech, Spanplatten, Glas- und Stahlwolleverkleidung geht auf Wilhelm Reichs Orgon-Akkumulator von 1940 zurück. Durch ungeklärte kosmische Strahlungen soll angeblich die Körpertemperatur der darin sitzenden Probanden steigen und sich ein körperliches Wohlgefühl einstellen. Ähnlich ist es mit der Colema Bench, die mit Klistierpumpe und Eimern zur medizinisch-therapeutischen Behandlung des Enema (= Klistier) gehört, aber auch bei Klinik-Sex-Spielen Verwendung findet. Bei den beiden anderen Objekten wurde der Faktor erotischen Wohlgefühls mit Sado-Maso-Ideen verknüpft. Mike Kelley kombiniert den Faktor des minimalistisch Rustikalen mit dem Begriff der körperlichen Empfindung und lässt diese Spannung bestehen. Damit geht er über den rein assoziativen Bereich hinaus, weil aus unserer kulturellen Erfahrung eine tiefenpsychologische Bildverarbeitung stattfindet, die sich offensichtlich an Archetypen orientiert. 

Hier ist auch der Schulterschluss der künstlerischen Arbeit Mike Kelleys an die Bilder und Objekte von Albert Oehlen und Martin Kippenberger zu sehen, gleichsam als Brutstätte neuer Mythen, die natürlich auf ältere zurückgreifen, ihnen aber eine andere Wendung geben. Martin Kippenberger zeigt dies auf eindrückliche Weise im Ausstellungsraum des Hauses am Klosterberg, wo er – wie schon anlässlich seines 40. Geburtstages – den Worktimer in den Birkenwald hineinstellt. Das Konstrukt des Controllings von Arbeitszeit und Produktivität ist ein geometrisches Monstrum auf Rädern mit Papas Aktentaschen als Puffer, das in einem merkwürdigen Verhältnis zur angeblichen Natur des Birkenwaldes und dem chemischen Produkt der hölzernen Pillen (gegen Kater) steht. Kippenberger hat dieses Arrangement um den Entwurf Verwaltungsgebäude für Müttergenesungswerk Paderborn und eine Darstellung des Kostengebirges erweitert, bürokratische Worthülsen, die er wörtlich und visuell zu füllen verstand. Im Klima von Groteske und den Alltagsmythen, die sich gegenseitig nicht ausschließen, schweben in einem Bild über geometrischem Grund aus dem Jahr 1984, als die „Neuen Geometrien“ angesagt waren (und man denkt zurück an Palermos Flipper) drei Rollmöpse wie extra-terrestrische Flugobjekte. Mit dem Bildtitel Noch sind Matjes nicht zu teuer versöhnen sie die Katerstimmung mit dem Neokonstruktivismus, ein Mythos, an dem jeder teilhaben kann.

Veit Loers

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